Von Herta ScheidingerDie Gesundheitswirtschaft prägt den Wirtschaftsstandort wie kaum ein anderer Bereich.Innovation, Versorgungssicherheit und Vertrauen in Wissenschaft sind Themen, die weit über den Klinikalltag hinausreichen. Leif Moll, Geschäftsführer von Merck Österreich und Präsident des Forums der forschenden pharmazeutischen Industrie (FOPI), erläutert im Gespräch die Chancen für Österreich und zeigt auf, welche Hürden dringend überwunden werden müssen.Herr Moll, Wien gilt als führender Life-Science-Standort in Europa. Was macht die Stadt für Merck so attraktiv?Leif Moll: Wien bietet eine einmalige Kombination aus Tradition und Zukunft. Die „Wiener medizinische Schule“ hat einen historischen Ruf, zugleich profitieren wir von einer starken Forschungsbasis mit hunderten Gruppen an Universitäten und Instituten. Spitzenleistungen bei Publikationen, Förderungen und Patenten ziehen Talente aus aller Welt an. Für globale Unternehmen wie Merck ist das ein attraktives Gesamtpaket.Wo liegen die größten Herausforderungen für den Standort?Zum einen ist natürlich dessen Größe begrenzt, sowohl, was Talente angeht, aber auch Probanden für klinische Forschung. Außerdem bremsen die oftmals komplexe Bürokratie und das Fehlen attraktiver steuerlicher Anreize, um internationale Fachkräfte nach Österreich zu holen, das vorhandene Potenzial. Leider muss ich sagen.Österreich gilt zudem als Mangelmarkt bei Medikamenten. Was sind aus Ihrer Sicht die Ursachen?Das Problem betrifft vor allem Produkte ohne Patentschutz. Hier ist der Preisdruck so groß, dass nur wenige Anbieter mit wenigen Produktionsstandorten, typischerweise in Asien, überbleiben. Die Folge sind Versorgungslücken. Lösungen wären zum Beispiel diversifizierte Erstattungsmodelle, Anreize für eine Rückholung der Produktion in die EU und digitale Systeme, die Lieferbarkeit eines Medikaments und mögliche Alternativen bereits bei der Verschreibung sichtbar machen. Was nicht hilft, sind nationale Alleingänge wie lokale Bevorratungsvorschriften.Die Zahl der klinischen Studien in Österreich ist deutlich zurückgegangen. Welche Konsequenzen hat das? Die Bilanz fällt in der Tat ernüchternd aus: In nur drei Jahren haben wir rund 28 Prozent weniger neue Studien gesehen. Das schwächt die Forschung, die Versorgung und die Attraktivität des Standorts. Auch wenn wir mit dem Problem in Europa nicht alleine sind, es muss sich etwas ändern: Wir brauchen schnellere Genehmigungsverfahren, eine längerfristige abgesicherte Ressourcenausstattung der Studienzentren, beispielsweise in Form von festangestellten Study Nurses und eine Entlastung des ärztlichen Personals von administrativen Aufgaben in Studien. Außerdem sollten die Prozesse digitalisiert und vereinheitlicht werden, zum Beispiel durch Musterverträge für Studienzentren. Alles in allem ist das kein Hexenwerk, wir sollten uns einfach an den höchsten internationalen Standards orientieren.Wie wirken sich globale Krisen auf Ihr Österreich-Geschäft aus? Merck ist ein breit diversifiziertes Unternehmen, sowohl geografisch, als auch was das Produktportfolio betrifft. Das schützt uns vor Turbulenzen. Dennoch sehen wir die aktuellen globalen Entwicklungen auf dem Arzneimittelmarkt mit Sorge. Wir bekennen uns klar zum Freihandel, weil er die weltweite Verfügbarkeit von Medikamenten sichert. Auf Österreich selbst sehen wir derzeit keine unmittelbaren Auswirkungen, allerdings darf man davon ausgehen, dass die teils doch sehr großen Preisunterschiede zwischen einzelnen Industriestaaten künftig zurück gehen werden.Warum rücken seltene Erkrankungen in den letzten Jahren stärker in den Fokus? Weil hier der ungedeckte Bedarf enorm ist. Weltweit gibt es etwa 8000 seltene Erkrankungen, aber nur für fünf Prozent existiert eine zugelassene Therapie.In Österreich sind 400.000 bis 500.000 Menschen betroffen. Für sie und ihre Familien kann Forschung den entscheidenden Unterschied machen. Unser Ziel ist es, Betroffenen eine Perspektive auf ein besseres Leben zu bieten.Der Zugang zu Innovationen entscheidet über Lebensqualität. Wie ist die Situation in Österreich? Hier zeigt sich ein gemischtes Bild: Im Spitalsbereich haben Patientinnen und Patienten meist einen schnellen Zugang zu neuen Therapien. Das gilt es zu verteidigen. Kritischer sehen wir die Lage im niedergelassenen Bereich. Je nach Indikation dauert es oft Jahre, bis Medikamente erstattet werden. Häufig müssen Einzelfallentscheidungen beantragt werden, was zu Unsicherheiten und Ungleichheiten führt. Auch Indikationserweiterungen werden eher zögerlich in den Erstattungskodex aufgenommen, weil zusätzliche Rabatte erwartet werden. Damit wird Innovation bestraft. Österreich liegt im extramuralen Bereich, also im Bereich der niedergelassenen Versorgung, im europäischen Mittelfeld und eben nicht in der Spitzengruppe, wie oftmals angenommen.Forschung braucht Talente. Wo sehen Sie die größten Engpässe? Zum einen beim erleichterten Zugang für internationale Fachkräfte. Hier sind schnellere Verfahren und Relocation-Programme nötig. Ebenso wichtig ist die Förderung von MINT-Fächern und Initiativen für Frauen in Technik und Forschung. Wir sollten Life Sciences als attraktives Berufsfeld schon in Schulen sichtbar machen, etwa durch Praktika und Mentoring. Langfristig braucht es eine Fachkräftestrategie von Wissenschaft, Wirtschaft und Politik.Sie sind auch Präsident des Forums der forschenden Pharmaindustrie (FOPI). Welche Prioritäten setzen Sie für das kommende Jahr? Im Vordergrund steht der Zugang zu Innovation. Im Spital soll er erhalten, im niedergelassenen Bereich verbessert werden. Zudem wollen wir stärker vermitteln, dass Ausgaben für Medikamente nicht primär Kosten, sondern Investitionen in die Gesellschaft sind. Darüber hinaus bringen wir uns in die neue Life-Science-Strategie Österreichs ein, um die Wettbewerbsfähigkeit des Standorts weiter zu sichern.Wissenschaft und Innovation stehen zunehmend unter öffentlichem Druck. Wie wirkt sich das aus? Wir sehen, dass mehr Menschen Wissenschaft und Fortschritt skeptisch gegenüber stehen, manchmal sogar als Bedrohung sehen. Das macht uns Sorgen, weil es unser gesamtes Umfeld betrifft. Bei Merck versuchen wir, dieser Skepsis mit Transparenz und direkter Kommunikation entgegenzuwirken. Ein Beispiel ist das Health Science Forum Vienna, das wir gemeinsam mit dem IMBA veranstalten. Es richtet sich bewusst auch an ein breites Publikum. Mit dem „Curiosity Cube“ haben wir außerdem letzten Juni Wiener Schulklassen ein Mitmachlabor geboten und der große Erfolg bestätigt uns in unserem Tun. Das Interesse und die Begeisterung der Kinder waren wirklich groß. Solche Initiativen sind entscheidend, um Vertrauen aufzubauen. Wir müssen schon junge Menschen für Wissenschaft und Technologie begeistern, damit eine innovationsfreundliche Gesellschaft entsteht.Wenn Politik, Kassen und Industrie an einem Tisch säßen: Welche Aufgabe hat höchste Dringlichkeit? Eine moderne Life-Science-Strategie muss Wissenschaftsförderung, Produktionssicherung, Datenintegration und gesellschaftliches Vertrauen zusammendenken. Wir müssen die Komplexität reduzieren und Rahmenbedingungen schaffen, die Innovation und faire Preise ermöglichen. Nur so bleibt Österreich ein attraktiver Standort für Forschung und Versorgung.Herta Scheidinger
Thursday 30 October 2025
kurier.at - 1 days ago
