Als Oliver Rathkolb vor 15 Jahren erste Ideen wälzte, hätte er sein neues Projekt fast wieder verworfen: „Das ist eine fade Geschichte, der Vergleich geht nicht auf“, urteilte der Historiker selbstkritisch. „Wir leben in einer aufgeklärten Zeit. Wirtschaftswachstum und digitale Revolution werden die Welt gerechter machen“, dachte er damals. „Demokratie überall, sogar in der ehemals kommunistischen Sowjetunion.“ Sogar die Hoffnung lebte, dass der Turbo-Kapitalismus das kommunistische Regime in China transformiert. Der Vergleich zwischen der Zeit vor 1914 und der Gegenwart, den der renommierte Historiker hatte anstellen wollen, wanderte in die Schublade.Plötzlich aber holte Rathkolb die Realität ein: „Der Vergleich ist durch die aktuellen Entwicklungen immer heißer geworden“, sagt er. „Wir sind heute – ebenso wie die Generation vor dem Ersten Weltkrieg – durch die ökonomischen, politischen, kulturellen und sozialen Entwicklungen total überfordert. Da ist auch eine ganz starke, latente Angst, die unser Leben prägt. Und gleichzeitig eine unglaubliche Geschwindigkeit – mit dem negativen Ergebnis, dass politische Akteure, aber auch Gesellschaften, nicht mehr ruhig, nüchtern, anhand der Fakten entscheiden.“ All diese Gedanken sind jetzt in Rathkolbs neues Buch Ökonomie der Angst. Die Rückkehr des nervösen Zeitalters eingeflossen.Molden VerlagDer Zeithistoriker sieht große Ähnlichkeiten mit dem Katastrophenzeitalter vor 1914. Ein Kernbegriff in seinem Buch ist die Turbo-Globalisierung. „Vor 1914 wird innerhalb einer Generation der gesamte Kommunikations- und Transportsektor so beschleunigt wie nie zuvor in der Geschichte“, sagt Rathkolb und erinnert an die Erfindung von Telegraf und Dampfmaschine. „Heute müsste man sogar von Turboturbo-Globalisierung sprechen, weil sich die Geschwindigkeit durch die digitale Revolution vervielfacht hat.“ Globale Auswirkungen inklusive.Dass der Mensch dafür nicht gemacht ist, zeige sich in vielen Studien. Daher würden sich die Pioniere der digitalen Revolution wie Bill Gates dafür einsetzen, dass ihre eigenen Kinder möglichst wenig Zeit in der digitalen Welt verbringen. „Es überfordert nicht nur, sondern macht uns auch leicht manipulierbar. Stichwort Algorithmen – eine große Gefahr.“Millionäre und TriggerpunkteVor gut 100 Jahren hatten Millionäre wie Andrew Carnegie oder John D. Rockefeller überall ihre Finger im Spiel. Heute trifft das auf Elon Musk und Peter Thiel genauso zu. Damals wie heute gibt es Reizthemen, bei denen die Emotionen hochgehen: Der Verlust der eigenen Sprachdominanz und die Mehrheit der „Anderen“ in der Schule (ja bereits vor 1914) oder Triggerpunkt wie Gendern und Windräder. Dabei gehe es keineswegs um reale Bedrohungen, sondern um als Gefahr wahrgenommene Phänomene. Durch das Festhalten an Energieträgern der Vergangenheit, die das lange Wachstum nach 1945 geprägt haben, wird eine Sicherheit vorgegaukelt, die es nicht mehr gibt.Massive VerwerfungAuch beim Thema Zuwanderung sieht der Autor Parallelen der Epochen: „Im 19. Jahrhundert haben sich die Gesellschaften innerhalb kurzer Zeit durch Migration völlig verändert“. Zum einen sei da die Auswanderung aus Europa, vor allem in die USA, aber auch eine starke Binnenmigration innerhalb der Monarchie.Kurier/Juerg ChristandlEinerseits brauchte man diese Menschen als Arbeitskräfte, gleichzeitig wollte man sie nicht, weil sie Tschechisch sprachen oder jüdischer Herkunft waren. „Verschiedene Kulturen und Religionen mischten sich und die Politik war nicht imstande, auf ein integratives Element zu setzen.“Klingt sehr vertraut, oder? Genauso wie die Irrationalität, mit der damals wie heute Kriege ausgetragen werden: „Die österreichische Armee war überhaupt nicht für den Ersten Weltkrieg gerüstet. Die Militärs haben nicht erkannt, dass sich die Technologie im militärischen Bereich radikal verändert hat. Und so kam es zu einem unglaublich blutigen, mechanisierten Stellungskrieg in dem ein, zwei Generationen im wahrsten Sinne des Wortes verblutet sind“, erzählt der Historiker. Die Friedensbewegung habe genau davor gewarnt. Das Wissen war also da, die Vorgangsweise aber völlig irrational.Ähnliches passiert in der Gegenwart: „Vor vielen Jahren hat Markus Reisner, einer meiner Studenten und heute bekannter Oberst, seine Dissertation über den Drohnenkrieg verfasst. Die Technologie war also längst bekannt – wie sind dann Vorfälle wie jene am Flughafen Kopenhagen oder München Anfang des Monats möglich? Es liegt doch alles auf dem Tisch, es ist wie vor 1914“, wundert sich Rathkolb und kritisiert: „Hoch bezahlte Militär- und Geheimdienste sind nicht im Stande ein effizientes Abwehrmittel zu entwickeln. Stattdessen wird in alte, überkommene, unbrauchbare Rüstungsmaterialien investiert.“ Und weiter: „Wir haben aus der Geschichte nichts gelernt und gewisse Entwicklungen verschlafen“.Positives zum SchlussTrotz der pessimistischen Analysen kommt Rathkolb aber zu einem optimistischen Schluss: „Am Beispiel Nahostkrieg erkennt man, dass Trump plötzlich zum Friedenstifter wird. Einfach weil es letztlich um die ökonomischen Interessen der USA, aber auch der Familie Trump im arabischen Raum geht.“ Nur der Blick auf den Aktienkurse und der Deal zählen. Daher drohe derzeit keine Wiederholung der Angst getriebenen Überreaktion des Ersten Weltkrieges. „Ich hoffe, ich behalte recht, weil Historiker bekanntlich nicht geeignet sind, in die Glaskugel zu schauen. “
Wednesday 29 October 2025
kurier.at - 7 hours ago
Zeithistoriker Rathkolb warnt: Parallelen zu 1914 im digitalen Zeitalter

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